Der Parma-Report:
Die Stadt und der AC

In Parma ist der Fußball nicht alles

Ein denkwürdiges Wochenende in der ebenso liebenswerten wie skandalgeplagten norditalienischen Stadt -
Samba auf der Titanic zwischen AC Parma und AS Rom

Parma. Am nächsten Tag wird die Schlagzeile der "Gazzetta di Parma" vom "Inferno bianco", dem weißen Inferno künden und verstörte Mitbürger zitieren, die bis zu zwölf Stunden in ihren sommerbereiften Autos auf den Straßen der Region Emilia Romagna gefangen waren. Wir sind früh am Morgen in Heidelberg los gefahren und werden nach 700 reibungslosen Kilometern erst an der Autobahn-Ausfahrt Parma Centro vom "Caos neve", dem Schneechaos, dauerhaft gestoppt. Und beobachten staunend auf der Einfallstraße Richtung Innenstadt, wie die Polizei die Fahrzeuge einzeln aus dem langen Stau auf die Steigung dirigiert, wo sie von eifrigen Helfern empor geschoben werden. Wintereinbruch auf Italienisch.

An einer Brücke, die zur Altstadt führt, nimmt Benjamin Baudendistel die Gäste aus der Heimat - Sven Kaltschmitt, Sebastian Metz, Werner Rehm, Marc Saggau, Holger Wittmann Joseph Weisbrod - in Empfang. Der angehende Mediziner und einstige Kapitän des Heidelberger Fußball-Bezirksligisten ASC Neuenheim verbringt ein Erasmus-Studienjahr in der norditalienischen Schinken- und Milch-Metropole. Die Tickets für das Spitzenspiel der Serie A zwischen dem Tabellenfünften AC Parma und dem Tabellenzweiten AS Rom hat er am Vormittag besorgt.

Wir stapfen durch den Schnee und nehmen einen Imbiss im "Foccacia Paninoteche" ein. In dieser Studentenkneipe futtern wir uns durch die Speisekarte mit den fleischlich und vegetarisch phantasievoll gefüllten warmen Fladenbroten. Danach ein Bummel durch die autofreien Straßen, Arkaden und Gassen des weitläufigen Centro storico, der Altstadt mit ihren ockerfarbenen Palazzi rund um die Piazza Garibaldi. Die lebhafte, aber nie hektische Stadt ist, gemessen an der Einwohnerzahl, etwas größer als Heidelberg und auch ungefähr so geschichtsträchtig, nämlich im 12. Jahrhundert vom Adelsgeschlecht der Farnese begründet.

Es schneit ununterbrochen. Daher immer wieder die bange Frage: Wird bei diesem wilden Schneetreiben am Sonntag überhaupt gespielt? Der Inhaber eines Feinkostladens, nach eigener Auskunft einst mit 150 Treffern ein gefürchteter Goalgetter beim AC Parma, beruhigt uns: Das Match finde auf jeden Fall statt. Und stellt uns eine hochbetagte Dame vor, die geduldig an der Kasse wartet: "Das ist Signora Ancelotti, die Mutter des Milan-Trainers." Tatsächlich ist Parma die Heimatstadt von Carlo Ancelotti, dessen AC die Tabelle der Serie A vor dem AS Rom anführt.

Der Abend vor dem großen Spiel. Ein Festmahl im "Bacco verde", einer mit dem fröhlichen Stimmengewirr junger Leute beschallten Enoteca. Wir vertilgen eine Riesenplatte Antipasti mit Schinken, Wurst, Salami- und Käsesorten. Danach die hausgemachte Pasta, u. a. mit delikaten Varianten von Spaghetti mit Wildschwein, Steinpilzen, begleitet von einem glutvollen sizilianischen. Rotwein. Nach diesem bis weit nach Mitternacht dauernden Gelage ahnen wir, warum man die Emilia Romagna auch den Bauch Italiens nennt.

Nach dem unitalienisch reichhaltigen Frühstück, einer ausgiebigen Besichtigung des komplett aus Holz errichteten Teatro Farnese und nach einer letzten Stärkung in der Pizzeria Artista gehen wir zu Fuß zum Stadio Tardini, das mitten in der Stadt liegt. Wir beziehen unsere "Sitzplätze" (auf denen keiner sitzen bleibt) in der Curva Nord, der Kurve der Tifosi von Parma. Eine halbe Stunde vor dem Anpfiff ist das Stadion noch längst nicht gefüllt. Von italienischer Begeisterung und Heißblütigkeit auch danach keine Spur. Eine Atmosphäre fast wie in Hoffenheim. Selbst die eingefleischten Tifosi, was soviel wie "vom Typhus, also vom Virus befallen" bedeutet, benötigen zur Aktivierung ihrer Stimmbänder das permanente Stakkato eines Vorsingers bzw. unermüdlichen Schreihalses, der seinem Funkmikro vor und während dem Spiel kaum eine Pause gönnt.

Die erste freudige Überraschung vor dem Anpfiff. Der mit der leuchtenden Glatze kann doch nur Pier-Luigi Collina sein, die Kultfigur des internationalen Schiedsrichter-Adels. Er tut uns auch noch den Gefallen, sein extravagantes Aufwärmprogramm auf unserer Seite zu absolvieren. Dann der Einmarsch der Gladiatoren. Was zumindest bei den Stars des AS Rom, die ja in der Tat das (untergehende?) römische Imperium vertreten, zutrifft. Nach einem zerfahrenen Auftakt, bei dem die Tifosi sich mit Schneeballschlachten warmhalten, gehen die "Gialloblú", die Gelbblauen aus Parma, in Führung. Und wie! Alberto Gilardino, der einzige Stürmer im System von AC-Coach Prandelli, nimmt einen superben Pass von Mittelfeldspieler Marchionni an, lupft den Ball kurz hoch und donnert ihn unhaltbar für Roma-Keeper Pelizzoli unter die Latte. Offenbar das Aphrodisiakum für diese Partie. Als ob das Starensemble von Fabio Capello nur auf diesen Kälteschock gewartet hätte, ziehen die Gäste aus der Hauptstadt nun ein ebenso spektakuläres wie effizientes Powerplay auf.

Kurz vor der Halbzeit düpiert der geniale Roma-Feldherr Francesco Totti die Parma-Abwehr mit einem verblüffenden Steilpass in den Strafraum. Sturmbruder Antonio Cassano lässt AC-Keeper Sebastian Frey grün wie dessen Dress aussehen, umkurvt ihn leichtfüßig und knallt den Ball aus spitzem Winkel mitten ins Parma-Netzwerk. Nun bittet Roma zum Sambatanz. Das Mittelfeld-Orchester mit den Brasilianern Emerson und Mancini und dem Franzosen Olivier Dacourt spielt im Gleichtakt mit den Solisten Totti und Cassano auf wie einst Antonio Toscanini und Giuseppe Verdi im ehrwürdigen Teatro Farnese. Der Ex-Leverkusener Emerson, Francesco Totti und Alessandro Mancini servieren eine römische Gol-Delikatesse nach der anderen bis zum Endstand von 1:4 für die brillanten Romanisti. Schwacher Trost für die Parma-Tifosi: Inter Mailand erging es am vergangenen Wochenende nicht besser. Auch Christian Vieri & Co. wurden von Roma mit 1:4 vom Feld geschossen.

Ein symbolträchtiges Bild am Ende der einseitigen Gala: Romas Stürmerstar Cassano huldigt strahlend seinen Fans trotz der frostigen Temperaturen nackt, wie der Fußballgott ihn schuf - von einem knappen Slip abgesehen. Völlig nackt stehen auch die beiden Traditionsclubs da, die sich hier - vielleicht zum letzten Mal - in einem Spitzenspiel der Serie A gegenüber standen. Denn hinter den Kulissen des die ganze Nation elektrisierenden wöchentlichen Fußballtheaters wird in der Serie A vor allem Russisches Roulette gespielt. Im Stadio Tardini duellierten sich nicht nur einige der besten Fußballer der Welt, sondern auch ungefähr 600 Millionen Euro Schulden (AS Rom) mit 250 Millionen Euro Schulden (AC Parma). Das macht unterm Strich fast die Hälfte der 1,9 Milliarden Euro Schulden, die der Serie A mit ihren 18 italienischen Erstligisten nach der Großrazzia Ende Februar den Garaus zu machen drohen.

Die Zukunft der beiden Vereine ist höchst ungewiss. Nicht dass die norditalienische Stadt Parma nach dem Zusammenbruch des Molkereikonzerns Parmalat wirtschaftlich am Tropf hinge. Mit 2,7 Prozent hat die wohlhabende Milch- und Schinken-Metropole immer noch eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa. Doch der Skandal entlarvt das engmaschige Geflecht zwischen Industrie, Banken, Presse, Politik und Fußball. Die einstige Riesenspinne in diesem das Gemeinwesen umspannenden Netz: Parmalat-Gründer und -Chef Calisto Tanzi. Der Pate des "Systems Parma", ohne den nichts ging. Der Padrone und dessen Sohn Stefano, ehemaliger Vereinsboss des AC Parma, versuchen nun in der Untersuchungshaft ihre Fäden zu ziehen. Ob die Stadt, deren halber Honoratiorenriege die Anklagebank droht, die "Kraft zur Selbstreinigung" aufbringt, wie Bürgermeister Elvio Ubaldi verzweifelt fordert, ist durchaus offen.

Und der AS Rom? Selbst den mit allen Wassern gewaschenen Managern des russischen Ölkonzerns Nafta war der Einstieg bei der hoch verschuldeten Roma zu heiß. Unmittelbar nach der Razzia Ende Februar ließen die Russen den geplanten Deal in letzter Minute platzen. Nun ruhen alle Hoffnungen auf dem Roma-Patriarchen Franco Sensi, 77. Statt der 500 Millionen Euro-Spritze der russischen Ölmilliardäre soll der Padrone jetzt in die eigenen Taschen greifen, um seine alte Liebe Roma zu retten: schlappe 160 Millionen Euro bis Ende April.

Zum Finale unseres verlängerten Parma-Wochenendes das gemeinsame Abendessen in der Trattoria Corrieri. Die feine traditionelle Küche, das stilvolle Ambiente und der aufmerksame Service geben uns erneut das Gefühl, in einer der gaumenfreudigsten und gastfreundlichsten Regionen Italiens willkommen zu sein. Wir haben angesichts der Freundlichkeit und Gelassenheit der Parmeser allerdings nicht den Eindruck, dass dieses Schlaraffenland - Scandalo hin, Scandalo her - jemals abbrennen könnte.

Und siehe da: Als wir am nächsten Tag Parma verlassen müssen, ist die Stadt frisch poliert und gänzlich vom Schnee befreit. Kein Wunder, dass man die Parmeser auch die Schwaben Italiens nennt. Was allerdings deren sprichwörtliche Sparsamkeit angeht, können zumindest die eitlen Strippenzieher von Parmalat und AC Parma von den Schwaben und deren VfB Stuttgart sich eine feine Scheibe Parmaschinken abschneiden.

Grazie, Parma! Grazie, Roma! Grazie, Benni!

Joseph Weisbrod